Geckos halten sich mit verbreiterten Zehenlappen auch an Zimmerdecken fest. / Foto: Pixabay

  Ratgeber

Bionik: bis zum Friedensschluss zwischen Technik und Natur ist noch ein weiter Weg

„Der Hühnerknochen, den Sie gestern abgeknabbert und weggeworfen haben, war ein High-Tech-Produkt! Mehr noch: Er war der Superlativ eines funktionell an die mechanischen Erfordernisse angepassten Leichtbaudesigns. Kein Ingenieur ist bis heute in der Lage, dieses in seiner äußeren Gestalt und in seiner Innenarchitektur im Hinblick auf minimales Gewicht und höchste Festigkeit vortrefflich optimierte Bauteil zu kopieren!“

So furios beginnt Claus Mattheck, Leiter der Abteilung Biomechanik im Kernforschungszentrum Karlsruhe, sein wissenschaftliches Buch „Design in der Natur – Der Baum als Lehrmeister“. Der Physiker erläutert darin, mit welchen Tricks Bäume und Knochen mechanische Probleme lösen. Er weist den Weg zum „Ökodesign“, zu Maschinenteilen, die nach den Gestaltgesetzen der Natur konzipiert sind: leichter und trotzdem fester – also besser. Auf diese Art hat er beispielsweise Kurbelwellen für Maschinen konstruiert, die die 40fache Lebensdauer konventionell entworfener Teile haben.

Wer hat´s erfunden? Die Natur – und die Luftwaffe

Mattheck ist das gegenwärtige Aushängeschild der Wissenschaftsdisziplin Bionik, einer Zusammensetzung von „BIOlogie“ und „TechNIK“. Die Bionik zeigt den Technikern, dass sie nicht jeden Tag das Rad neu erfinden müssen – weil sie der Natur Konstruktionen, Verfahren und Problemlösungen abschauen können. Eingeführt wurde der Begriff „bionics“ 1958 von dem amerikanischen Luftwaffenmajor James E. Steele. Er verstand darunter, „Erfindungen der Natur“ für die Technik nutzbar zu machen. Bionik besteht also, grob gesagt, aus zwei Arbeitsschritten: Zuerst geht es darum, biologische Vorbilder zu erforschen und ihre Problemlösungen zu erkennen; danach sind die Ergebnisse in die Technik zu übertragen.

Der Baum, Dein Freund und Ideengeber


Strandkiefer / Foto: Pixabay

Matthecks Forscherinteresse wurde im Urlaub geweckt, als er an der französischen Atlantikküste eine Strandkiefer sah, die vom heftigen Wind gepeitscht wurde. „Wieso brechen die Äste nicht an den Kerben?“ fragte er sich. Zurück im Kernforschungszentrum, begann er, Baumteile zu erforschen, und kam zu dem Ergebnis: Bei Astgabeln tritt die von Technikern gefürchtete Kerbspannung nicht auf. Er und seine Mitarbeiter fotografierten nun Tausende Bäume, enträtselten die Geheimnisse der Kraftflüsse in den Kerben, des Wachstums bei Rindenverletzungen und der Materialverteilung in Stamm und Ast. Nebeneffekt: Aus dem Forschungsobjekt „Baum“ wurde ein „Freund“ und „Lehrmeister“; liebevoll spricht Mattheck von den „schweigenden Riesen in der grünen Freiheit“.

Gesamtheitlich und fächerübergreifend

Mattheck ist der seltene Glücksfall eines Wissenschaftlers, der zu fächerübergreifender Zusammenarbeit mit anderen Experten bereit ist. Die Forscher dürfen ihr eigenes Fachgebiet nicht wie mit Scheuklappen betrachten, denn Bionik ist Grundlagenforschung und Anwendung in einem. Biologen müssen also mit Technikern kooperieren und Biochemiker mit Informatikern. Vor allem bei den Naturwissenschaftlern sieht Professor Werner Nachtigall, der Gründer der Gesellschaft „Technische Biologie und Bionik“ in Saarbrücken, noch zuviel Zurückhaltung: „Wenn man als Forscher Ansätze für eine Übertragungsmöglichkeit gefunden hat, hat man sich bisher eher verschämt geäußert und die Industrie kaum darauf aufmerksam gemacht. Dabei sind Industrie und Technik solchen Anregungen gegenüber durchaus offen, sie erwarten sie geradezu.

Da Vinci und Lilientahl als Wegbereiter

So relativ jung der Name „Bionik“ auch ist – fundamental neu ist er nicht, der Ansatz, über die Grenzen eines Fachgebiets zu blicken: Der berühmteste Vorgänger der Bioniker, Leonardo da Vinci (1452 bis 1519), forschte schon vor 500 Jahren. Der geniale Wissenschaftlicher war dahintergekommen, dass die Federn eines Vogelflügels bei der Aufwärtsbewegung Luft durchströmen lassen, während sie sich bei der Abwärtsbewegung zu einer dichten Fläche zusammendrücken. Für seine geplanten Flugapparate zeichnete da Vinci bewegliche Tragflächen aus Weidenruten und Leinen, die sich nach demselben Prinzip öffnen und schließen sollten. Weil er allerdings noch nicht den Vorteil eines gewölbten Flügels erkannt hatte, wären seine Flugapparate nicht funktionstüchtig gewesen. Erst Otto Lilienthal (1849 bis 1896) experimentierte mit Vogelflügeln und Vogelmodellen. Die Erkenntnisse daraus übertrug er in die Konstruktion von Hängeleitern, mit denen er bis zu 300 Meter weit segelte. Lilienthal gilt wegen seiner Vorgehensweise als ein Vorläufer der deutschen Bioniker.

Pinguin: Strömungsgünstiger als ein Porsche


Foto: Pixabay

Zwar befassen sich heute in Deutschland in Industrie und Forschung einige Wissenschaftlicher mit diesem Fachbereich, aber nur an zwei Universitäten gibt es Lehrstühle mit einem Forschungs- und Ausbildungsschwerpunkt in diesem Fach: einen an der Universität Saarbrücken, den zweiten an der Technischen Universität Berlin. Hier erforscht der Biologe Rudolf Bannasch seit Anfang 1993 die Strömungseigenschaften des Pinguinkörpers. Seine Versuche mit Körpermodellen förderten Erstaunliches zutage: Ihr Widerstandsbeiwert, der sogenannte cw-Wert, liegt bei 0,03 – zehnmal günstiger als bei einem Porsche Carrera und immer noch 20 Prozent besser als bei einem U-Boot-Rumpf. Interessiert an diesen Forschungsergebnissen sind vor allem Branchen, bei denen es auf geringen Energieverbrauch bei der Fortbewegung ankommt, beispielsweise Solarmobilhersteller oder Flugzeugbauer.

Haifischhaut am Segelboot

Während Bannasch seine Forschung noch „im Grundlagenbereich“ sieht, kann der Flugzeugingenieur Dietrich W. Bechert schon auf Versuche mit Prototypen verweisen. Der Wissenschaftler des Instituts für Strömungsmechanik hat nach zehnjähriger Forschungsarbeit eine Folie mit winzigen Rillen entwickelt, die der Schuppenhaut einiger extrem schneller Haifischarten ähnelt. Die Airbushersteller gehen davon aus, dass ihr neuer A-340-Langstreckenjet, wenn er mit dieser Folie beklebt wäre, wegen des niedrigen Luftwiderstands fast zwei Prozent Treibstoff sparen würde. Anders ausgedrückt: Es könnten 15 Passagiere mehr mitfliegen. Langzeitexperimente mit einer ähnlichen Folie auf einem Airbus A-320 waren jedenfalls vielversprechend. Einen spektakulären sportlichen Erfolg verbuchte ein Vorläufer der Haifischfolie schon 1987: Skipper Dennis Connor ließ damit seine Segelyacht „Stars and Stripes“ bekleben – und gewann den America’s Cup.

Keine verstopften Deckel für Kleber mehr?

Bionik liefert jedoch nicht nur Vorbilder für aufwendige High-Tech-Projekte, sondern dient auch der Entwicklung von so alltäglichen Dingen wie Klebstoffen. Wissenschaftler der Kieler Universität fanden zum Beispiel bei den nur wenige Zentimeter großen Seepocken der Gattung Balanus Anregungen für Mehrkomponentenkleber und Kleber, mit dem Gebisse befestigt werden. Die Seepocken produzieren einen einfach herzustellenden Klebstoff, der zehnmal so bruchfest ist wie Epoxydharz und außerdem jahrelang Salzwasser aushält. Die Tierchen gehören zu den Kleinkrebsen und kleben mit dem Kopf an Felsen, Pfählen oder Schiffsrümpfen; ihr Körper wird im Laufe des Älterwerdens nach und nach von einem Kranz oder Kalkplatten umschlossen.


Seepocken kleben ohne Kleber an Pfählen, Felsen oder Schiffsrümpfen. / Foto: Pixabay

Den Klebstoff produzieren die Seepocken in Drüsen, den Zementdrüsen. Dieses Sekret härtet unter Wasser schnell und dauerhaft aus. Selbst im Brandungsbereich halten sich die Schalentiere. Hat sich an der Basis der Seepocke doch einmal etwas gelockert, tritt die Drüse wieder in Funktion. Aber auch nur dann – ungewollte Verstopfung mit Klebstoff gibt es bei den Seepocken nicht. Damit haben sie ein weiteres Problem gelöst, das jeder kennt, der einmal nach einigen Monaten eine Tube mit Klebstoff zu öffnen versucht: Meist sind Tubenhals und Deckel durch den mittlerweile festen Inhalt dauerhaft verschlossen.

Was Geckos mit Teppichen verbinden könnte und Teppiche mit dem Boden

Umweltschonend ist es natürlich, ganz ohne Kleber zu kleben. Auch dafür gibt es in der Natur Vorbilder. Der Biologe Andreas Mieth von der Kieler Universität nennt besonders „die Saugnäpfe von Tintenschnecken sowie die erstaunliche Fähigkeit von Fliegen oder sogar Eidechsen, an senkrechten, glatten Flächen Halt zu finden“. Geckos zum Beispiel, die man in südlichen Ländern häufig unter der Zimmerdecke Insekten jagen sieht, halten sich dort mit ihren verbreiterten Zehenlappen fest. Das sind Haftorgane, die aus dichten und in Reihen angeordneten Polstern mit Mikrohaken bestehen, die sich wiederum in noch feinere Spatulae aufteilen. Einige Forscher gehen wegen deren Winzigkeit davon aus, dass sogar molekulare Anziehungskräfte zwischen ihnen und der jeweiligen Oberfläche bestehen. Leider bleibt diese Leistung für die Technik im Moment unerreichbar: „Technische Verfahren sind heute noch nicht in der Lage, diese feine Struktur zu erreichen“, bedauert Mieth. Hoffnung setzt er dagegen auf die Mikrohakensysteme. In Zukunft könnten die Unterseiten von Teppichböden mit ähnlichen Haftsystemen ausgestattet werden, meint er. Das lästige und teilweise gesundheitsgefährdende Kleben würde dann entfallen!

Frieden mit der Natur? Fast zu schön, um wahr zu werden

Die Zukunft der Bionik wird allerdings weniger darin liegen, Einzellösungen aus der Natur nachzuahmen; die Euphorie der 60er Jahre, in denen man hoffte, Techniker könnten die Natur wie Blaupausen kopieren, hat sich gelegt. Es werde stattdessen mehr darauf ankommen, die natürliche Evolution selbst nachzuvollziehen, ist Bannasch von der Technischen Universität Berlin überzeugt.

So werden schon heute Flugzeugflügel im Windkanal mutiert, selektiert und nach den Gesetzen der natürlichen Vererbungs- und Entwicklungslehre von Generation zu Generation verbessert; Computersimulationen unterstützen das Verfahren. Diese von dem Berliner Professor Ingo Rechenberg erarbeitete Evolutionsstrategie führt oft zu überraschenden Ergebnissen: Man hat auf diese Art Brückenkonstruktionen und Linsensysteme für Fotoapparate entwickelt, die sich keine Theoretiker hätten ausdenken können. „Bei manchen Formen haben wir die Vorzüge selbst erst im Nachhinein verstanden“, sagt Bannasch. Er warnt zwar davor, in der Bionik den schnellen Weg zum Frieden von Technik und Natur zu sehen, doch „umweltfreundlicher, naturnäher und energiesparender wird die Technik durch die Bionik“.

Bis sie die Geheimnisse der Natur nachvollzogen haben, müssen Wissenschaftler und Techniker jedoch noch einige Klippen umschiffen, wie ein Spruch an der Wand eines Konstruktionsbüros in einem großen Flugzeugwerk zeigt: „Berechnungen unserer Ingenieure haben ergeben, dass die Hummel nicht fliegen kann!“

(Erstveröffentlichung: 1994; Copyright: Jörg Weber)

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