Nur eine "Sache": Das Ökosystem Rhein ist im Sinne des Gesetzes kein „anderer“. / Foto: Pixabay

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Im Namen der Würmer: Rechte der Natur

Die geltenden Umweltgesetze leisten Beihilfe zur Naturausbeutung, behauptet Jurist Jörg Weber in diesem Essay und fordert Eigenrechte für Tiere und Pflanzen.

Mit zwei Sätzen wäre der Einzug des Ökologischen in unser Rechtssystem zu verwirklichen: „Das Recht der Natur auf Existenz ist gewährleistet. Eingriffe in die Rechte der Natur bedürfen einer Rechtfertigung.“ Dadurch würde der Natur zu einem Anspruch auf sich selbst verholfen und somit aus dem Aschenputtel „Umweltrecht“ ein feines Umweltschutzrecht. Doch so soll es offensichtlich nicht sein. Das Grundgesetz sagt im Staatsziel Umwelt- und Tierschutz: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Immerhin – mit Rücksicht auf Kinder und Kindeskinder sollen alle natürlichen Lebensgrundlagen Beachtung finden. Und nicht nur die des Menschen, also Rübenfelder und Golfplätze.

Der Mensch braucht Freiheit – seine eigene natürliche Lebensgrundlage zu zerstören?

Mag sein, dass die Gerichte, die im Umweltschutz häufig mehr Mut zeigen als der Gesetzgeber, sich durch dieses Staatsziel gestärkt fühlen. Aber im Grunde versteckt sich hinter dem Wortsalat lediglich ein unverbindlicher Auftrag an den Gesetzgeber, das Umweltrecht weiterzuentwickeln. Die Natur bleibt weiter rechtlos, und der Bürger, der vor Gericht gegen Umweltzerstörungen klagen will, kann sich nicht auf dieses Staatsziel berufen. Auch um ein anderes Kernproblem des Umweltschutzes schlägt diese Formel einen großen Bogen: Sie begrenzt die menschliche Entfaltungsfreiheit nicht.


Wo der Mensch heute die Natur zerstört, handelt er nicht rechtswidrig. / Foto: Pixabay

Ob Waldsterben, Meeresverseuchung oder Treibhauseffekt: Überall, wo der Mensch heute die Natur zerstört, handelt er nicht etwa rechtswidrig – er übt nur die Freiheiten aus, die ihm die meisten demokratischen Verfassungen gewähren. Und er kann sich dabei auf eine jahrhundertalte Geisteshaltung stützen. Denn spätestens seit der französischen Revolution beherrscht die Forderung „Freiheit!“ das demokratische Rechtssystem. Die Freiheit als juristische Abwehrwaffe zum Schutz vor staatlicher Willkür ist eine Säule des Rechtsstaats. Dementsprechend kann der Bürger ein ganzes Arsenal an Rechtsmitteln aufbieten, wenn der Staat in seine Freiheiten eingreift. Das ist gut, wenn es vor staatlichen Lauschangriffen in der Wohnung bewahrt oder vor Pressezensur. Aber im Umweltschutz reicht das nicht. Hier ist die Freiheit des einen der Zwang des anderen: Wer sich die Freiheit erstreitet, den Rhein mit Schwermetallen zu verseuchen, zwingt andere, neue Badeplätze zu suchen und Trinkwasserbrunnen zu bohren. Und wenn, bei sogenannten „Summationsschäden“ etwa, der Verursacher nicht eindeutig auszumachen ist, wachsen sich die kleinen Freiheiten jedes Einzelnen zu Freiheitsverlusten anderer aus: Die Autofahrer tragen dazu bei, dass die Abgaswerte steigen und nehmen damit Kindern die Freiheit, draußen zu toben.

Die größten Naturzerstörungen sind gesetzlich erlaubt

Juristisch kann der Einzelne gegen diesen Freiheitsraub fast nichts ausrichten; Abwassereinleitung und Autofahren sind ja staatlich erlaubt. Klagen kann dagegen der Wasserverschmutzer – falls der Staat ihm nicht genug Einleitungen gestattet. Die Mehrheit der Juristen stört sich an diesem schiefen Freiheitsverständnis nicht. Ihre Doktrin lautet: Die Grundidee der Freiheit ist gewahrt, wenn nicht Staatsorgane, sondern die Bürger andere Bürger einschränken, sich dabei aber an die Gesetze halten. Solange sich daran nichts ändert, garantiert das Grundgesetz die Freiheit, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.

Die Forderung nach einer „ökologischen Grundrechtsschranke“ hat dagegen bisher nie eine echte Chance gehabt. Man könnte ja die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ – Artikel zwei, Absatz eins des Grundgesetzes – jedem nur so weit garantieren, wie er „die natürlichen Lebensgrundlagen in ihrer Nachhaltigkeit nicht beeinträchtigt“. Dieser Vorschlag ginge zwar weit über das bisherige Grundgesetz hinaus. Aber auch er würde nur die Natur gerecht unter den Menschen aufteilen helfen – zwischen Arm und Reich, zwischen den jetzigen und kommenden Generationen. Jeden noch so bescheidenen Anspruch auf Gerechtigkeit für die Natur selbst löst diese Formulierung immer noch nicht ein.

Papageien brauchen keine Redefreiheit


Anglervereine sind "andere" und bekamen Schäden erstattet. / Foto: Pixabay

Rechte für die Natur bedeuten nicht „gleiches Recht für alle“, ob Mensch, Vogel oder Mikrobe! Es versteht sich von selbst, dass Papageien keine Garantie der freien Meinungsäußerung brauchen. Wo und welche Rechte der Natur tatsächlich nötig sind, zeigt ein sehr altes Beispiel: Als 1986 durch den Brand bei dem Schweizer Pharma-Konzern Sandoz eine Giftwelle den Rhein hinunterschwappte, Millionen Fische und Milliarden Kleinlebewesen starben, wurden nur die Schäden ersetzt, die laut Gesetz „einem anderen“ entstanden waren. Das Ökosystem Rhein ist im Sinne des Gesetzes aber kein „anderer“, sondern eine „Sache“. Die Folge: Für die wahren ökologischen Schäden gab es keinen Ersatz, nur die Anglervereine bekamen den Wert der ausgesetzten Nutzfische erstattet. Wenn Flüsse, Wälder oder Moore zu Rechtssubjekten würden, wären aber auch sie „andere“. Ein Vormund könnte die Schäden einklagen, die ihnen zugefügt wurden. Gezahlte Entschädigungen könnten jene Umweltreparaturen finanzieren, für die bisher die Allgemeinheit aufkommt. Als Vormünder kommen Umwelt- und Tierschutzverbände in Betracht, aber auch vom Staat eingesetzte Personen, etwa nach dem Vorbild des Datenschutzbeauftragten.

Die Natur braucht einen Vormund – den Mensch

Erkenntnistheoretiker mögen hier einen Haken sehen. Denn im Prinzip setzt eine Vormundschaft voraus, dass ein Mündel Interessen hat, die ein Vormund erkennen kann. Und natürlich wissen wir nicht, ob die Natur als Ganzes oder einzelne Arten bestimmte Ansprüche stellen. Zwar fällt die Vorstellung leicht, dass die uns nah verwandten Affen nicht in einem Tierversuch gequält werden wollen. Aber haben Eichen etwas dagegen, gefällt zu werden? Was auch immer wir vermuten, es entstammt unserem eigenen, menschlichen System von Werten und Normen.

Andererseits: Die meisten Interessen eines eine Woche alten Säuglings kennen wir streng genommen auch nicht. Trotzdem hat er und sogar der menschliche Embryo Rechte, die seine Eltern oder ein Vormund geltend machen können. Warum also kein Vormund für die Natur? Weil sie keine „Rechtsperson“ ist, wie die berühmte „herrschende Meinung“ der Juristen behaupte? Dann müsste es juristische Gründe dagegen geben, die Natur oder ihre Teile zu Rechtsträgern zu küren. Doch statt einer Begründung folgt an diesem Punkt jeweils nur eine weitere Behauptung: Rechtsfähig könne eben nur der Mensch sein. Da schimmert die uralte Überzeugung durch, der Mensch sei Mittelpunkt und Sinn allen Weltgeschehens, als Krone der Schöpfung dürfte er sich die Erde untertan machen.

Vorbeugung gegen Ökodiktaturen

Ein anderer Einwand gilt der Sorge, Eigenrechte der Natur würden zu einer Ökodiktatur führen, die nur noch ein Ziel kennt: den Umweltschutz. Aber was spräche dafür, dass die Aufwertung der Natur zum Rechtssubjekt doktrinären Ökofundamentalisten die Macht in die Hände legt? Nichts – denn natürlich würden im Konfliktfall weiterhin Gerichte – Menschen also – zwischen Rechten und Interessen von Menschen und Ökosystem abwägen. Die Gefahr liegt dann doch eher darin, dass der bisherige Zustand der Rechtlosigkeit bleibt. Denn ohne Rechte für die Natur wird die Umwelt weiter so zerstört werden wie bisher. Daraus resultierende Notstandssituationen sind ein idealer Nährboden für die Errichtung totalitärer Regime. Wenn trinkbares Wasser und fruchtbares Land dauerhaft knapp werden, wird der Ruf nach Autoritäten ertönen, die notfalls mit undemokratischen Mitteln die Umwelt schützen.

Es geht nicht darum, Menschenrechte gegen Naturrechte auszuspielen

Und, am Rande bemerkt: Rechte der Natur müssen nicht mit den Rechten des Menschen konkurrieren. Sie können sogar in zweierlei Hinsicht als zusätzliche Menschenrechte gelten: Zum einen sind juristische Konstruktionen immer Menschenwerk, und nur Menschen halten sich an Gesetze. Aber so ist es auch gewollt. Rechte der Natur sollen menschliches Verhalten steuern und nicht das von Tümpeln oder Bergwiesen. Zum anderen ist der Mensch ein Teil der Natur. Er schützt sich selbst, wenn er seine Umwelt bewahrt. Die Rechte der Natur dehnen das Menschsein juristisch auf einen Bereich aus, der zwar außerhalb des Körpers liegt, aber mit ihm eng zusammenhängt. Wenn der Mensch der Natur Anspruch auf sich selbst zugesteht, erhebt der sprachfähige Mensch nur für seinen nicht sprachfähigen Partner Natur die Stimme vor Gericht und in der Gesellschaft.

Aber es geht um mehr als menschlichen Eigennutz. Die Natur ist eben nicht nur als Lebensgrundlage des Menschen zu schützen, sondern um ihrer selbst willen. Das geltende Umweltrecht, das die Umwelt als rechtlose Sache einstuft, macht sich der Beihilfe zur Naturausbeutung schuldig. Es lässt die Umwelt in der Ökonomie, der Erziehung, im gesamten gesellschaftlichen Alltag als ein immer verfügbares Objekt zur Ausbeutung erscheinen. Denn Recht ist nicht nur das Produkt, sondern immer auch Grundlage gesellschaftlichen Bewusstseins. So war es schon zu Zeiten der Sklaverei: Wer Rechte hat, wird geachtet. Wer keine hat, wird verachtet.

(2020; Copyright: Jörg Weber; der Text basiert auf dem Buch „Die Erde ist nicht Untertan“ von Jörg Weber; erschienen 1993 zunächst im Eichborn-Verlag, später bei dtv.)

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