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Schwachstelle Kaeser: Soll Siemens weiter eine nachhaltige Favoriten-Aktie bleiben?
Siemens will trotz massiver Proteste von Umweltschützern Bahnsignaltechnik für eine neue, riesige Kohlemine in Australien liefern. Andere Lieferanten hatten abgelehnt. Sollte ECOreporter Siemens daher von der Liste der nachhaltigen Favoriten-Aktien streichen?
"Wir müssen unsere vertraglichen Verpflichtungen erfüllen.“ Das teilte Siemens-Chef Joe Kaeser am vergangenen Sonntag nach einer außerordentlichen Vorstandssitzung mit. Vorausgegangen waren Protestaktionen mehrerer Umweltschutzverbände. Diese hatten Siemens aufgefordert, den Liefervertrag über die Signaltechnik zu kündigen. Am Freitag letzter Woche hatte sich Kaeser mit der Fridays for Future-Aktivistin Luisa Neubauer getroffen. Am Ende bot Kaeser der Klimaschützerin vergeblich einen Job an – und er betonte, den Vertrag erfüllen zu wollen. Siemens wird liefern.
So hohe CO2-Emissionen wie ganz Österreich
Ein Grund, die Siemens-Aktie aus dem ECOreporter-Kosmos der nachhaltigen Dividendenkönige zu verbannen? Siemens unterstützt mit der Lieferung an den indischen Energiekonzern Adani den Bau eines der größten Kohlebergwerke der Welt. Adani will in der australischen Mine bis zu 60 Millionen Tonnen Steinkohle pro Jahr abbauen. Zum Vergleich: RWE, der größte Kohlekonzern Europas, fördert pro Jahr etwa 86 Millionen Tonnen Kohle – in allen seinen Minen zusammen. Wissenschaftler des Australia Institute schätzen, dass durch das Verfeuern der Kohle aus der Adani-Mine jährlich fast 80 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre gelangen werden. Etwa so viel, wie ganz Österreich innerhalb eines Jahres emittiert.
Siemens könnte derzeit der einzige ernsthafte Anbieter der für die Kohlemine nötigen Signaltechnik sein. Keine Siemens-Lieferung, keine Kohlemine? Sicher ist das nicht, aber: Zumindest würde alles länger brauchen – das wiederum könnte den Gegnern der Mine mehr Zeit für Aktionen und Proteste geben.
Bis 2030 will Siemens selbst CO2-neutral werden. Das Versprechen erscheint als Witz, wenn auf der anderen Seite die Siemens-Produkte dazu führen, dass riesige Mengen CO2 ausgestoßen werden.
Die Siemens-Schwachstelle trägt den Namen Kaeser
Siemens-Chef Kaeser hat sich in der Kohleminen-Kontroverse als ungeschickter, hilfloser Konzernlenker erwiesen. Luisa Neubauer einen Sitz im Aufsichtsrat von Siemens Energy anzubieten, war unsäglich – ein ernsthaftes Gespräch hätte gereicht. Aber Kaesers wahre Fehler liegen tiefer. Sie zeigten sich in seinen Statements der letzten Tage. So gab er zu Protokoll, der Konzern hätte schon früher sensibler mit dem Thema rund um die Kohlemine umgehen müssen. Zwischen den Zeilen war zu lesen: Den Fehler haben diejenigen gemacht, die den – für Siemens-Maßstäbe kleinen – Auftrag an Land gezogen haben.
Und Kaeser entgegnete auf Neubauers Angebot, einen Klima-Wissenschaftler in den Aufsichtsrat zu entsenden, es fehle Siemens nicht an Expertise, sondern an Leadership. Wie beim Pariser Klimagipfel habe es nicht an Kompetenz, sondern an Führungskraft gefehlt. Eine übrigens sachlich vollkommen zutreffende Analyse. Allerdings auch eine, mit der Kaeser sein eigenes Unvermögen aufdeckt: Die Schuld an dem Kohleminen-Desaster seinen Untergebenen aufzuhalsen, ist charakterschwach. Man stelle sich vor, ein Kaeser-Untergebener hätte gegenüber den Adani-Einkäufern gesagt: "Nein, Kohleprojekte unterstützen wir nicht mehr, da verzichten wir auf den Auftrag!“ Eine fristlose Kündigung wäre wahrscheinlich gewesen.
"Leadership“ müsste Kaeser selbst zeigen: Wer dem Klima nutzen will, der muss als Unternehmensleitlinie ausgeben: Keine Kohle-Geschäfte mehr. Das muss schriftlich und öffentlich zu Protokoll gegeben werden. Mit Mut zum Leadership. Daran würden sich alle Untergebenen halten. Manche vielleicht nur zähneknirschend. So aber zeigt sich Kaeser als zahnloser Tiger, der in der Öffentlichkeit gerne mit dem Begriff Ethik hantiert.
Letzter Beleg dafür: Kaeser will jetzt einen Nachhaltigkeitsrat aus externen Experten installieren, der bei umstrittenen Aufträgen ein Vetorecht haben soll. Ein übliches Mittel, wenn jemand nicht genug Leadership (früher nannte man es Mumm in den Knochen) hat, um selbst schwierige Entscheidungen durchzufechten.
Die wahren Schuldigen
Trotz alledem: Nicht Siemens hat die Baugenehmigung für die neue Kohlemine erteilt, sondern der australische Staat. Während im Land so schwere (auch klimabedingte) Waldbrände wie nie zuvor wüten, hält die Regierung in Canberra am Klimakiller Kohle fest. Natürlich muss Siemens deshalb keine Technik für die Adani-Mine liefern. Aber wenn der Konzern sich dazu entscheidet, es zu tun, handelt er legal.
Siemens ist auch kein Skandalkonzern, der ständig in Nachhaltigkeitskontroversen verwickelt ist. Im Gegenteil: Für die Nachhaltigkeits-Ratingagentur MSCI ESG gehört Siemens seit Jahren zu den drei nachhaltigsten Unternehmen im Segment "Industriekonglomerate“. Auch die Nachhaltigkeits-Ratingagentur ISS ESG lobt Siemens: wegen umfassender Maßnahmen für eine nachhaltige Produktpalette sowie Zuliefererstandards für Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte, Arbeitssicherheit und Gesundheit.
Siemens stellt Energieeffizienz- und grüne Gebäudetechnik her, ist Mehrheitseigner des Windanlagenbauers Siemens Gamesa.
FAZIT
Die ECOreporter-Redaktion hat sich nach längeren Diskussionen dazu entschieden, Siemens vorerst bei den Favoriten-Aktien zu belassen. Das Unternehmen gehört nach wie vor zu den nachhaltigsten Großkonzernen. Und es besteht eine gewisse Hoffnung, dass Siemens sich nun trotz seines Konzernchefs, der auf der Nachhaltigkeitsbrust so schwach ist, solche Fehler nicht wieder erlaubt. Grundgedanke dabei: Es geht bei einem Austausch der Favoriten-Aktien nicht um "Strafe“ für vergangenes nicht-nachhaltiges Verhalten, sondern um die Aussichten auf die künftige Nachhaltigkeit. Aber: Siemens wackelt und steht unter noch schärferer Beobachtung.
Siemens AG: ISIN DE0007236101 / WKN 723610