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Oikocredit-Interview: Wie krisenfest ist die Mikrofinanzwelt?
Das Coronavirus breitet sich aktuell vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern aus - also dort, wo Mikrofinanzanbieter ihre Kredite vergeben. Ist das Geld der Anleger noch sicher? Und wie kann den Menschen vor Ort derzeit am besten geholfen werden? ECOreporter hat Dr. Imke Schulte, Leiterin der deutschen Geschäftsstelle von Oikocredit in Frankfurt, um eine Einschätzung gebeten.

Dieses Interview können Sie auch als PDF herunterladen.
Oikocredit gehört zu den Pionieren im Mikrofinanzbereich. Die auf die Finanzierung sozialer Projekte spezialisierte Genossenschaft aus dem niederländischen Amersfoort vergibt seit 1975 Kredite an Mikrofinanzinstitute, Genossenschaften und kleinere Unternehmen in Ländern des globalen Südens. Anleger können bei Oikocredit investieren, indem sie Mitglied in einem der regionalen Förderkreise werden und Genossenschaftsanteile erwerben.
Frau Schulte, wie nehmen Sie die Corona-Situation in den Ländern wahr, in denen Sie Kredite vergeben?
Imke Schulte: Die Pandemie wirkt sich in den Ländern, in denen wir arbeiten, unterschiedlich aus. Das hat zum einen damit zu tun, dass sich das Virus zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausbreitet. Und es hat damit zu tun, dass Regierungen unterschiedliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ergriffen haben. Wenn wir unsere Ergebnisse für das zweite Quartal 2020 anschauen, war unser Portfolio regional gesehen in Afrika weniger stark betroffen als in Asien, Lateinamerika und der Karibik. Indien, Indonesien, Mexiko und Ecuador hat es bisher am stärksten getroffen. Insgesamt blieb jedoch die Portfolioqualität am Ende des zweiten Quartals stabil.
Gibt es neben regionalen auch Branchenunterschiede?
Ja. Wir sehen beispielsweise weniger Auswirkungen in der Landwirtschaft als im inklusiven Finanzsektor. Das kommt unter anderem daher, dass die Landwirtschaft von den Regierungen der meisten Länder, in denen wir operieren, als besonders wichtiger Sektor eingestuft wurde. Somit gab es in diesem Sektor relativ viel Unterstützung, etwa in der Logistik, um möglichst wie gewohnt weitermachen zu können. Das heißt nicht, dass sich das nicht ändern kann, aber bisher ist das unsere Beobachtung.

Dr. Imke Schulte, Leiterin der deutschen Geschäftsstelle von Oikocredit. / Foto: Unternehmen
Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung in Ihren Partnerländern ein?
Je nach Markt und Region unterschiedlich. In Afrika zum Beispiel sind die Auswirkungen bislang relativ begrenzt. Das freut und erleichtert uns. Gleichzeitig sind wir besorgt, dass die Auswirkungen der Pandemie dort noch nicht zu Ende sind. Deshalb beobachten wir die Situation weiterhin genau. In einigen Teilen der Welt, wie in Asien und Europa, können wir sehen, wie sich strenge Maßnahmen wieder lockern. Das beste Szenario wäre, dass die ergriffenen strikten Maßnahmen wirken und weiter gelockert werden können und dass die Lockerungen keine zweite starke Welle des Virus mit sich bringen.
Sind bei den Mikrofinanzinstituten, mit denen Sie zusammenarbeiten, die Ausfallquoten der Kredite in den letzten Monaten weiter gestiegen? Im Unternehmensbericht zum ersten Quartal 2020 sprechen Sie von einem Anstieg ausfallgefährdeter Projekte von 5,4 Prozent im vierten Quartal 2019 auf 6,8 Prozent.
Insgesamt blieb die Portfolioqualität am Ende des zweiten Quartals stabil. PAR 90 – der Prozentsatz des Kreditportfolios, dessen Zahlungen mindestens 90 Tage überfällig sind – hat sich sogar geringfügig von 6,8 auf 6,7 Prozent verbessert. Dabei wird unser gesamtes Kreditportfolio berücksichtigt, das in erster Linie den inklusiven Finanzsektor, aber auch die Sektoren Landwirtschaft und Erneuerbare Energien umfasst. Das Quartalsergebnis entsprach im Großen und Ganzen unseren Erwartungen – mit einer verbesserten Liquiditätsquote, die von 21,1 auf 25,8 Prozent stieg, da viele Partner ihre Kredite weiterhin pünktlich zurückzahlen konnten. Weil die Auswirkungen von Covid-19 deutlich spürbar geworden sind, hat Oikocredit im zweiten Quartal trotz der relativ stabilen Leistung des Portfolios in Bezug auf PAR 90 zunehmende Rückstellungen für Wertminderungen vorgenommen.
Zahlreiche Länder haben in der Krise Schuldenmoratorien erlassen, damit Kreditnehmer ihre Raten stunden können. Wie sehr ist Oikocredit davon betroffen?
Um die finanzielle Situation zu entspannen, haben wir über 100 Partnern Zahlungsaufschub für ausstehende Kredite gewährt. Das war ein wichtiger und nötiger Schritt. Die von uns angebotenen Zahlungsaufschübe sind dabei im Prinzip unabhängig von staatlichen Schuldenmoratorien. Als Sozialinvestor achten wir selbstverständlich auf unsere Partner. Wir prüfen von Fall zu Fall, gegebenenfalls zusammen mit anderen internationalen Kreditgebern, ob es notwendig und möglich ist, einem Partner Flexibilität bei den geplanten Ratenzahlungen zu gewähren. Das ist auch im Sinne unserer Anlegerinnen und Anleger, die besonderen Wert auf die soziale Rendite ihres bei uns investierten Geldes legen. Und wenn wir unseren Partnern mehr Flexibilität bei der Bedienung unserer Darlehen anbieten, erwarten wir im Gegenzug, dass auch sie ihren Kundinnen und Kunden gegenüber mehr Flexibilität zeigen.

Der nigerianische Mikrofinanzpartner Advans hat aus Mitteln des Oikocredit Corona-Solidaritätsfonds Masken, Handschuhe und Eimer zum Händewaschen finanziert, die er an Kundinnen und Kunden in Lagos und Umgebung verteilt. / Foto: Advans
Gibt es noch andere Maßnahmen, mit denen Sie auf die Corona-Krise reagieren?
Wir haben früher im Jahr entschieden, die Kreditvergabe an neue Partner auszusetzen, damit wir bestehende Partner besser unterstützen können. Sie gilt es jetzt durch diese schwierige Zeit zu begleiten und zu stärken. Wir überwachen die finanzielle Leistung unserer Partner und PAR genau und bewerten die Risiken auf allen unseren Märkten kontinuierlich. Kürzlich haben wir die Entscheidung getroffen, langsam und selektiv wieder mit der Finanzierung neuer Partner zu beginnen.
Außerdem haben wir von Anfang an mit anderen Impact-Investoren zusammengearbeitet. Wir haben uns zunächst auf niederländischer Ebene vernetzt, um mit Gleichgesinnten zu sprechen, und uns dann mit Impact-Investoren in ganz Europa abgestimmt. Was dabei sehr erfreulich ist: Wir erleben hier einen sehr kooperativen Geist, alle wollen zusammenarbeiten. Die Richtlinien, die wir gemeinsam entwickelt haben, waren ein großer Schritt nach vorn, und wir sind stolz darauf, dass die Genossenschaft Oikocredit eine Initiatorin dieser Zusammenschlüsse und Vereinbarungen war. Es gibt jetzt viele Institutionen, die sich den gleichen Richtlinien anschließen wollen.
Wie kommunizieren Sie mit Ihren Partnern in Zeiten von Kontaktbeschränkungen? Treffen vor Ort sind derzeit ja wahrscheinlich kaum möglich.
Anstelle persönlicher Treffen tauschen wir uns telefonisch, per Mail und in Videokonferenzen aus. Wir stellen Fragen, hören zu und klären Bedarfe. So können wir unsere Unterstützung individuell gestalten. Beispielsweise geben wir Online-Schulungen, die unseren Partnern helfen, ihre Geschäfte durch schwierige Zeiten weiterzuführen. Dabei geht es unter anderem um Geschäftskontinuität und Cashflow, Gesundheitsschutz und Sicherheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Kundinnen und Kunden, um Stresstests und um Risiko- und Szenarienplanung. Darüber hinaus bieten wir auch einen Austausch mit Führungskräften von Mikrofinanzinstitutionen an, damit die Partner auch voneinander lernen können. Das Feedback ist durchweg positiv. Und wir stellen zurzeit sehr deutlich fest: Externe Bedrohungen bringen Menschen zusammen, und sie bringen auch uns und unsere Partner näher zusammen.
Sie haben auch einen sogenanntenCoronavirus-Solidaritätsfonds ins Leben gerufen. Was genau ist das?
Wir haben den Coronavirus-Solidaritätsfonds eingerichtet, um die finanzielle Unterstützung für stärker gefährdete Partner und ihre Kundinnen und Kunden zu erhöhen. Beispielsweise erhalten Kundinnen und Kunden von Mikrofinanzpartnern Zuschüsse für die Anschaffung von Schutzausrüstung und Sanitärmaterial, die sie brauchen, um ihre Geschäfte weiterführen zu können.

Viele Mikrofinanzkredite werden in bar aus- und zurückgezahlt. / Foto: Opmeer Reports
Wie viel Geld steckt in dem Fonds?
Die Oikocredit International Support Foundation richtete den Solidaritätsfonds mit einer anfänglichen Summe von 25.000 Euro ein. Der Betrag wurde dann durch die Oikocredit Stiftung Deutschland und Oikocredit Nederland aufgestockt, sodass die im zweiten Quartal zusätzlich ausgezahlten Mittel über 33.000 Euro erreichten. Dabei kam ein großer Teil der Spendengelder aus Deutschland. Seit Ausbruch der Pandemie haben uns viele engagierte Anlegerinnen und Anleger kontaktiert und sich erkundigt, wie sie Partnern und deren Kundinnen und Kunden jetzt helfen können – über die Geldanlage hinaus. Auch Spendenaufrufe in unseren Newslettern oder über Social Media zeigten Wirkung. Wir sind im Kerngeschäft keine Spendenorganisation. Aber besondere Zeiten erfordern besondere Mittel.
Wem kommt der Solidaritätsfonds zugute?
Der Fonds hat bislang vielen Kleinunternehmerinnen und -unternehmern in einkommensschwachen Communities und in Sektoren geholfen, die in der Regel keinen Zugang zu staatlich organisierten Sozialversicherungen und formellen Finanzdienstleistungen haben. Wir haben die Ziele des Fonds jetzt erweitert, sodass er auch Nothilfe für gefährdete Partner und ihre Kundinnen und Kunden im Landwirtschaftssektor bietet. Dazu gehört zum Beispiel Grundgüterversorgung für Menschen, die ihre Häuser nicht verlassen können.
Wie steht Oikocredit in der Corona-Krise wirtschaftlich da?
Die Krise wirkt sich auch finanziell auf Oikocredit aus, das ist klar. Positiv ist: Wir haben eine konsolidierte Finanzlage, und die Geschäftssituation der meisten unserer Partner zeigt sich als weitgehend stabil. Wir sind also gut aufgestellt und können den Herausforderungen von einer starken Position aus begegnen.
Wagen Sie eine Prognose für das Geschäftsjahr 2020?
Für uns ist klar: Die vor uns liegende Aufgabe ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Denn eine wirtschaftliche Erholung wird wahrscheinlich nur langsam eintreten, mögliche längerfristige negative Auswirkungen sind derzeit noch ungewiss. Wir verbessern weiterhin unsere internen Kontrollen, überprüfen und optimieren unsere Systeme kontinuierlich weiter. Auch wenn der Umfang unseres Portfolios und unserer Erträge für eine Weile zurückgehen und wir die vor der Krise definierten Wachstumsziele nicht erreichen, verfolgen wir weiterhin den Auftrag unserer internationalen Genossenschaft: dort zu unterstützen, wo wir benachteiligten Menschen eine bessere Zukunft ermöglichen können.
Für das Geschäftsjahr 2019 haben Sie keine Dividende gezahlt. Werden Sie auch für 2020 die Dividende aussetzen?
Unsere mittelfristigen Finanzergebnisse werden wahrscheinlich wegen des geringeren Portfoliowachstums und der gestiegenen Risiken beeinträchtigt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es unwahrscheinlich, dass Oikocredit für 2020 eine Dividende zahlen wird.
Steigen derzeit vermehrt Anleger bei Oikocredit aus, weil sie Angst haben, ihr Geld zu verlieren?
Wir sind wirklich beeindruckt über das anhaltende Engagement unserer Anlegerinnen und Anleger. Wir konnten trotz des Rückgangs unseres Portfolios und unserer Zinserträge eine stabile Investitionsbasis aufrechterhalten, weil weniger Rücknahmeanträge von Anlegerinnen und Anlegern gestellt wurden als zu Beginn der Krise erwartet. Natürlich sind viele Menschen über ihre finanzielle Situation besorgt. Wir haben das insbesondere bei einigen Impact-Fonds gesehen, aus denen viele Menschen aussteigen. Bei Oikocredit beobachten wir das bislang nur in begrenztem Umfang, und obwohl einige Anlegerinnen und Anleger Investitionen zurückgezogen haben, haben andere das Gegenteil getan und ihre Investitionen erhöht.
Woher kommt dieses hohe Maß an Loyalität?
Vielleicht hat es damit zu tun, dass es uns bislang sehr gut gelungen ist, die Verbindung zu unseren Anlegerinnen und Anlegern aufrechtzuerhalten – und sogar zu verstärken. Nichts kann den persönlichen Kontakt ersetzen, das ist klar, aber so ähnlich, wie wir mit unseren Partnerorganisationen in diesen Zeiten verstärkt digital kommunizieren und ihnen möglichst maßgeschneiderte Angebote machen, haben wir uns auch in der Anlegerkommunikation auf die neue Situation eingestellt. Jetzt verlagern wir Bildungsangebote und Formate rund um ethisches Investieren und nachhaltiges Wirtschaften in den digitalen Raum. Wir bieten Online-Seminare, Workshops und digitale Hubs an, die sich auch an jüngere Menschen wenden. Uns ist vor allem wichtig, unsere Anlegerinnen und Anleger darüber auf dem Laufenden zu halten, was Oikocredit unternimmt, um stabil durch diese stürmischen Zeiten zu navigieren. Das stärkt das Vertrauen in unsere Arbeit.
Was raten Sie Anlegern, die derzeit in Mikrofinanz investiert sind oder neu investieren wollen?
Unsere Partner stehen an vorderster Front mit den Menschen, die wahrscheinlich von der Corona-Krise am stärksten betroffen sind: Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer. Unsere Partner leisten enorme Anstrengungen, und wir wollen, dass sie die wichtige Arbeit, die sie leisten, fortsetzen können. Und deswegen ist unser Rat klar: In diesen Zeiten ist solidarisches Investieren wichtiger denn je.
Frau Schulte, vielen Dank für Ihre Antworten!
Ein ECOreporter-Porträt von Oikocredit finden Sie hier.